Das urbane Fahrradmagazin

Pop-up Verkehrswende und Corona-Radweg, oder: Nichts hält länger als ein Provisorium

Gehen, Joggen, Radfahren ist empfohlen. “Physical Distancing” hilft der Verbreitung des Virus Einhalt zu gebieten. Aber in der Stadt ist kein Platz um Abstand zu halten. Und da waren sie plötzlich: Pop-Up Bikelanes!

Doro Staub
Doro Staub ist Texterin und lebt in der Schweiz und in Italien. Sie reist seit Jahren immer wieder mit dem Fahrrad durch Italien. Wer das auch gern machen möchte, findet auf ihrem Blog Miss Move viele bunte Berichte und Tipps.
Pop-Up-Radspur, Berlin-Kreuzberg, Hallesche Ufer Ende März 2020, Foto © Norbert Michalke

Er hat uns alle kalt erwischt: der Coronavirus. Kaum jemand hat einen Stillstand der Welt in einem solchen Ausmaß erahnt. Praktisch über Nacht wurden wir angehalten, zuhause zu bleiben. Geschäfte, Schulen, Sportzentren – alles blieb geschlossen. Die Folgen für unser persönliches Leben wurden uns erst bewusst, als wir im Homeoffice am Küchentisch saßen, unsere Kinder quietschfidel ebenfalls zuhause, unsere (Groß-) Eltern isoliert und leicht verstört.

Eine Vollbremsung unseres überhitzten Lebensstils, der seine Spuren hinterlässt. Ja, es ist schwierig. Und ja, wir geniessen auch die ruhigere Zeit. Und plötzlich werden Dinge möglich, für die manche schon jahrelang vergeblich gekämpft haben.

Über das Kunststück, Abstand zu halten
Bewegung im Freien wie Joggen, Spazieren, Rad fahren, ist selbst im ärgsten Lockdown in den meisten deutschsprachigen Regionen noch erlaubt. Aber um der Verbreitung des Virus Einhalt zu gebieten, wurde uns rasch der Begriff “Social Distancing” geläufig – oder vielleicht lieber “Physical Distancing”: wir lernen, einen Mindestabstand zur nächsten Person zu halten.

Also vollbringen wir das Kunststück, andere Passanten auf dem Gehsteig beim Kreuzen auf mindestens 1,5 m Abstand zu halten. Mit Hauswand auf der einen, und geparkten Autos auf der anderen Seite. 

Spoiler: es gelingt nur selten. Meistens muss mindestens eine Person auf die Straße ausweichen. In diesem Fall zwischen die geparkten Autos. In anderen Fällen auf die Straße oder den Radweg, wo wiederum Radfahrende in die Mitte der Fahrbahn schwenken müssen.

>> ZUM CLIP:  Changing Cities  demonstrieren mit ihren aktuellen Clip das Problem des Abstandhaltens so illuster wie bitter. Die Forderung der aktuellen Petition #FaireStraßen: gerade während Corona – mehr Platz für Rad- und Fußverkehr!

Gesundheitssystem entlasten
Die Gesundheit der Bürger rückt ins Zentrum. Es geht nicht nur darum, den Virus nicht einzufangen und zu verbreiten, sondern auch darum, das Gesundheitssystem nicht unnötig zu belasten.

Dazu zählt auch, die Luftqualität in den Städten zu verbessern, um Atemwegserkrankungen zu minimieren. Gesunde Atemwege verursachen weniger Corona-Komplikationen und entlasten somit die Krankenhäuser. Nach einem guten Monat Lockdown ist die Luftqualität über vielen Großstädten wesentlich besser geworden – allerdings ist sich die Wissenschaft noch nicht im klaren, ob die Verbesserung tatsächlich auf die Reduktion in Verkehr und Industrie zurückzuführen ist oder eher auf das Wetter und eine Reihe anderer Faktoren.

Um das Physical Distancing zu wahren, werden Stadtbewohner aufgerufen, mit dem Fahrrad anstatt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit oder zum Einkaufen zu fahren. So auch in New York City, noch vor dem Lockdown. Daraufhin lasen wir, dass in der Stadt innerhalb von nur einer Woche, plötzlich 43% mehr Radfahrer im Verkehr verletzt worden waren als zuvor. Die Stadt hatte es versäumt, mehr Platz für den Radverkehr zu schaffen und ihn dadurch sicherer zu machen. Da ging der Schuss also zünftig nach hinten los, was die Entlastung des Gesundheitssystems betrifft. An diesem Punkt bestätigte sich: sind mehr Radfahrerinnen und Radfahrer unterwegs, brauchts mehr und und breitere Radwege.

Pop-up Radwege in Bogotà, Berlin und New York
Der Lockdown bremst natürlich auch den motorisierten Verkehr aus. Weniger Menschen fahren zur Arbeit, weniger Autos sind unterwegs. Straßen wurden leerer, Rad- und Gehwege voller. So konnten manch kluge Stadtverantwortliche schnell reagieren und das einrichten, was wir “Faire Straßen” nennen:

  • Nebenstraßen wurden autofrei 
  • Fahrspuren wurden in temporäre Radwege umgewandelt (#PopUpBikeLanes)
  • Parkplätze, die Gehsteige zu sehr einengten, wurden für Autos gesperrt 
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Berlin möchte das Infektionsrisiko mit Empfehlungen zum Radfahren minimieren und dabei das Unfallrisiko mit Pop-Up Bike-Lanes gering halten . Foto © DPA

Dadurch erhielten Leute die zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs sind mehr Platz.

Pop-Up-Radwege
Wie staunten wir, als wir sie dann zum ersten Mal sahen, die sogenannten Pop-up Radwege – spontan angelegte Radwege mit temporärem Charakter.

  • Bogotà machte es uns allen vor: Auf über hundert Kilometern entstanden temporäre Fahrradspuren entlang der großen Hauptverkehrsstraßen.
  • Berlin legte ab Ende März 2020 eine weltweit beachtete Serie von Pop-Up Radwegen hin, begonnen mit den Bezirken Kreuzberg und Friedrichshain. Sie wurden vorerst provisorisch bis Ende Mai 2020 eingerichtet.
  • In Wien wurden in kurzer Zeit vier Wohnstraßen zu “Begegnungszonen” umgewandelt. Hier sind Fuss-, Rad- und Autoverkehr gleichberechtigt. Mit gegenseitigem Respekt funktioniert das richtig gut.
  • In New York, Vancouver, Mexico City, Budapest und manch anderen Großstädten wurden autofreie Straßen zugunsten des Fuss- und Radverkehrs eingerichtet. 

Der Mensch und sein ’natürliches Habitat‘, statt wie kommen Autos am besten durch die Stadt
Zu Coronazeiten verlagert sich der Fokus von: wie kommen die vielen Autos am besten durch die Stadt, zu: wie können Fußgängerinnen und Radfahrer den öffentlichen Raum nutzen und trotzdem genug Abstand zueinander halten? Der Scheinwerfer schwenkt vom Auto auf den Menschen zurück.

Flächengerechtigkeit wird zum Ding der Möglichkeit: den Platz für die Autos reduzieren, um den Menschen mehr Bewegungsfreiraum zu bieten.

Plötzlich wird möglich, was so viele schon seit Jahren gefordert haben: menschenfreundliche Städte, faire Strassen, Platz für Menschen, Sicherheit für Radfahrer, Luft zum Atmen.

Nichts hält länger als ein Provisorium
Viele Maßnahmen wurden als Provisorium eingerichtet, um sie rasch rückgängig machen zu können, “wenn alles vorbei ist”. Jürgen Resch, Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe, sagte dazu: “Sollten sich die Spontan-Radwege bewähren, könnte auch eine dauerhafte Lösung daraus werden.” Gern, Herr Resch! Das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg überrascht Mitte April mit der Aussage: „Ein Anrecht auf kostenlosen Parkplatz im öffentlichen Raum gibt es nicht“.

Das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg überrascht Mitte April: „Ein Anrecht auf kostenlosen Parkplatz im öffentlichen Raum gibt es nicht“. 

https://twitter.com/rbb24/status/1247203797925015554

 

Es ist zu hoffen, dass sich während des Lockdowns Verhalten und Gewohnheiten der Stadtbewohnerinnen und -bewohner bereits so stark verändern, dass der Schritt zurück nicht mehr infrage kommt. Viele steigen aufs Rad um, gewöhnen sich daran, haben sogar Spaß und wollen nicht mehr zurück ins Auto. Das erhöht den Druck auf die Politik, die Infrastruktur für Radfahrerinnen und auch für zu Fuss Gehende nachhaltig auszubauen.

Die Gelegenheit, die Städte neu zu denken, ist gekommen. Den schwierigsten Schritt einer Veränderung haben so viele Menschen schon getan: den ersten. Die Veränderung hat bereits Fuss gefasst. Eine neue Verkehrsgeschichte in den Städten entsteht.

Bleibt uns zu hoffen, dass sich das russische Sprichwort bewahrheitet:
Nichts hält länger als ein Provisorium.

Doro Staub
Doro Staub ist Texterin und lebt in der Schweiz und in Italien. Sie reist seit Jahren immer wieder mit dem Fahrrad durch Italien. Wer das auch gern machen möchte, findet auf ihrem Blog Miss Move viele bunte Berichte und Tipps.
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