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Cycling without Age: Bewegt(e) Generationen beim Radeln ohne Alter

Cycling without Age - das Geheimnis vom Jungbleiben heißt Fahrradfahren, oder besser: Rikschafahren! Bike Citizens Reporterin Doro Staub hat mit dem Kernteam in Kopenhagen gesprochen. Sie erzählt hier die Geschichte von "Radeln ohne Alter" - einer weltweit aktiven Initiative, die mit Verbundenheit, Großzügigkeit und Langsamkeit Generationen zusammenbringt.

Doro Staub
Doro Staub ist Texterin und lebt in der Schweiz und in Italien. Sie reist seit Jahren immer wieder mit dem Fahrrad durch Italien. Wer das auch gern machen möchte, findet auf ihrem Blog Miss Move viele bunte Berichte und Tipps.
Foto © Craig Douce Photography

Heute ist Sabine im Einsatz als freiwillige “Pilotin” für Radeln ohne Alter. Sie holt die Rikscha aus der Garage im Altersheim und hilft ihren heutigen Fahrgästen Irmgard und Erwin – beide weit über 80, auf dem Gefährt Platz zu nehmen. Heute geht die Fahrt durch den Park in Irmgards Lieblingscafé in der Stadt. So und so ähnlich geht es täglich in mehr als 50 Ländern zu und her.  

Radeln ohne Alter – was ist das?

Eines Tages im Jahr 2012 hatte der Kopenhagener Ole Kassow eine Idee: Er mietete eine Rikscha, fuhr bei einem Altersheim vor und fragte, ob vielleicht eine Bewohnerin oder ein Bewohner eine Rundfahrt an der frische Luft machen möchte. Und ob! Diese kleine Aktion fand ein so großes Echo, dass Ole wiederkam und in seiner Freizeit noch mehr ältere Menschen durch die Stadt fuhr. Schnell wurde ihm klar, dass seine Idee einem enormen Bedürfnis entsprach.

Auf Oles Anfrage spendierte die Stadt Kopenhagen diesem Altersheim aus dem Stand fünf Elektro-Rikschas, und so gab es bald die erste gemeinsame Fahrt mit zehn Passagieren und fünf freiwilligen “Pilotinnen” und “Piloten” mitten durch Kopenhagens Innenstadt. Diese Aktion fand riesigen Anklang bei den Leuten wie auch in den Medien.

Der Grundstein von “Cykling uden alder” (Radeln ohne Alter) war gelegt. Bald eröffneten andere Standorte auch außerhalb von Dänemark, womit sich der internationale Name Cycling without Age etablierte. 

Ole Kassow

Ole Kassow – Gründer von Cycling without Age mit Fahrgast. Foto © Mikael Colville-Andersen

Heute gibt es weltweit 2200 eingetragene Standorte in 50 Ländern, an denen Radeln ohne Alter angeboten wird. Rund 3000 Rikschas und über 33000 Pilotinnen und Piloten sind im Einsatz (Stand März 2020). Seit 2015 gibt es Radeln ohne Alter auch in Deutschland

Ole Kassow hat in Kopenhagen zwei feste Mitarbeiterinnen. Zu dritt stemmen sie diese Bewegung, koordinieren die Standorte, beantworten Fragen, unterstützen bei Schwierigkeiten, gehen neuen Ideen nach, zetteln Projekte an und bleiben nie stehen. 

Das Geheimnis vom jung bleiben?
Wind in den Haaren! 

Die leuchtenden Augen und begeisterten Erzählungen der Passagiere bestätigten die positive Wirkung dieser Ausfahrten immer wieder aufs Neue. Nicht nur die Pilotinnen und Piloten berichten vom Lachen, Geniessen, Erinnern, Erzählen ihrer Fahrgäste, sondern auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Altersheimen staunen oft, wie verändert einzelne Menschen von einer Ausfahrt zurückkehren. 

Oft sind keine Schlafmittel mehr nötig, oder einzelne Menschen beginnen wieder zu sprechen. Auf einer mehrtägigen Ausfahrt mit den Rikschas kam es gar öfter vor, dass ältere Passagiere ihre Geh-Hilfen zu nutzen vergaßen, berichtet Ole Kassow in seinem TED-Talk. Eine blinde Teilnehmerin schwärmte vom Wind, den sie in den Haaren spürte. Seither ist “das Recht, den Wind in den Haaren zu spüren” eine Art Slogan für Radeln ohne Alter geworden.

Nicht nur die frische Luft hat einen positiven Effekt auf die Fahrgäste, sondern auch die Gespräche unterwegs. Erinnerungen werden wach, Geschichten aus alten Zeiten kommen hoch, die auf der Ausfahrt ihren Platz finden. Und nicht selten entstehen enge Beziehungen zwischen Freiwilligen und Passagieren.

Ole Kassow fasst die Rolle der Freiwilligen so zusammen: “Bei Radeln ohne Alter gehts weniger um Freiwilligenarbeit im wörtlichen Sinn, sondern mehr um die aktive Bürgerschaft. Für Bürger, die das Bedürfnis haben, sich einzusetzen und einen echten Unterschied für jemanden zu machen. Schließlich geht es darum, Beziehungen zwischen Menschen zu schaffen.” 

So sieht Fahrradliebe im hohen Alter aus. Foto © Cycling without Age

Die fünf Prinzipien 

Wer einen Radeln ohne Alter-Standort eröffnen möchte, braucht in seiner Bewerbung nur zuzustimmen, dass er oder sie die Ausfahrten kostenlos anbietet und die Rikscha anderen Menschen ausleiht. Und dass sie oder er die fünf Prinzipien von Radeln ohne Altern anwendet:

1/ Großzügigkeit: Radeln ohne Alter basiert auf Großzügigkeit und Freundlichkeit. Das beginnt damit, dass Freiwillige ihre Zeit und Aufmerksamkeit verschenken.

2/ Geschichten erzählen: Ältere Menschen haben so viele Geschichten zu erzählen, die vergessen gehen, wenn niemand zuhört. Die Freiwilligen hören zu, geben die Geschichten weiter und erzählen ihre eigenen Geschichten.

3/ Beziehung: Radeln ohne Alter schafft eine Menge neuer Beziehungen: zwischen Pilot und Passagierin, zwischen älteren Menschen, zwischen Pilotin und Altersheim-Mitarbeiter, zwischen Pilotinnen. Beziehungen bilden Vertrauen, Glück und Lebensqualität.

4/ Langsamkeit: Auf einer langsamen Fahrt können die Passagiere die Eindrücke besser aufnehmen und haben genug Zeit, um jemanden auf der Straße zu grüßen.

5/ Ohne Alter: Radeln ohne Alter stellt das Altern in einen positiven Kontext: wie viele Möglichkeiten hat ein alternder Mensch, wenn er Teil einer Gemeinschaft ist.

Flache Hierarchie, große Entscheidungsfreiheit

Ole Kassow wünscht sich eine weniger profitorientierte Welt, dafür eine, die mehr auf diesen fünf Prinzipien basiert. Ihm geht es nicht um Wachstum, sondern um die soziale Wirkung. Entsprechend will er die Organisation klein halten. Den einzelnen Standorten überlässt er die Verantwortung, dass sie im Sinne von Radeln ohne Alter handeln und die fünf Prinzipien anwenden. 

Vertrauen statt Mikromanagement
“Wer eine Idee hat und begeistert ist, soll seinen Traum umsetzen können”, ist Ole überzeugt. Auch wenn er Radeln ohne Alter anders lebt als Ole es ursprünglich erfunden hat. Nur so kann sich die soziale Wirkung voll entfalten. Vertrauen statt Mikromanagement. Mit dieser Haltung ist es Radeln ohne Alter gelungen, trotz schnellem Wachstum nicht zum Bürokratiemonster zu werden. Dadurch ist es auch möglich, eine so große Gemeinschaft mit nur drei Mitarbeitenden zu koordinieren und zu führen.

Keiner ist zu klein um politisch einflussreich zu sein

Pernille Bussone ist eine der beiden Mitarbeiterinnen von Ole Kassow in Kopenhagen. Sie ist unter anderem verantwortlich für die Radeln ohne Alter-Gemeinschaft und beantwortet alle Fragen, die von den weltweiten Standorten kommen. 

“Die Hauptarbeit machen die Standorte”, sagt sie bescheiden, gibt allerdings zu, dass sie im Büro in Kopenhagen jede Menge Arbeit haben. Oft geht es bei den Fragen um Schwierigkeiten mit Bewilligungen für die E-Rikschas. Amtsschimmel erschwert in einzelnen Ländern den Betrieb von Radeln ohne Alter.

Cycling Without Age

Radeln ohne Alter kämpft nicht, sondern ist eine sanfte Bewegung, die allen Menschen ermöglicht, einen sozialen Unterschied zu machen. Foto © Cycling Without Age

Biss, Entschlossenheit, Lösungen und Argumentationshilfe
“Es braucht schon Biss und Entschlossenheit, um einen neuen Standort aufzubauen”, sagt Pernille, die sich selber durch die Bürokratie von Singapur gekämpft hat, um den dortigen Standort aufzubauen. “Aber es gibt immer eine Lösung. Oft können sich die Freiwilligen gegenseitig auf unserer Online-Plattform helfen. Und manchmal reicht meine Unterstützung beim Argumentieren. Wenn wir etwa einen arg regelkonformen Stadtpolitiker fragen, ob er uns wirklich daran hindern möchte, den älteren Bürgern seiner Stadt auf die Straße zu helfen.”

Eine „sanfte Bewegung“

Wirkungsvoll ist auch die Erwähnung der bereits 1988 vom Europäischen Parlament verabschiedeten Europäischen Charta der Fußgänger, die kaum eine Stadt anwendet. Darin stehen so wunderbare Sätze wie:

“Der Fußgänger hat das Recht, in Stadt- oder Dorfzentren zu leben, die menschen- und nicht autogerecht gestaltet sind und über Einrichtungen zu verfügen, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad leicht erreichbar sind.”

“Kinder, ältere Menschen und Behinderte haben ein Anrecht darauf, daß die Stadt einen Ort der Sozialisierung darstellt und ihre ohnehin schwache Stellung nicht noch weiter untergraben wird.”

So lässt sich bei allfällig sperrigen Lokalpolitikern argumentieren, dass man sie gerne unterstützen würde, die Charta in der Stadt umzusetzen. Die Europäische Union auf seiner Seite zu haben, hilft. 

Dieses Beispiel zeigt, dass Radeln ohne Alter nicht kämpft, sondern eine sanfte Bewegung ist, die jedem und jeder einzelnen ermöglicht, einen sozialen Unterschied zu machen. “Politik kann Menschen trennen. Radeln ohne Alter verbindet”, sagt Pernille. “Wir haben in unserer Gemeinschaft Stadtplaner und Kirchenmitglieder. Oft haben solche Parteien komplett  gegenteiligen politische Meinungen.

Bei Radeln ohne Alter haben alle das gleiche Ziel: wir ermöglichen älteren Menschen, den Wind in den Haaren zu spüren. Wir alle brauchen frische Luft, wir alle mögen das Fahrrad. Das verbindet und gibt eine positive Energie in der Gemeinschaft von politisch so unterschiedlichen Menschen.”

„Politik kann Menschen trennen. Radeln ohne Alter verbindet!“

Hochwertige Rikschas und Nachhaltigkeit 

Radeln ohne Alter ist populär geworden. In der nördlichen Hemisphäre, in den wohlhabenden Ländern. Immer mehr interessieren sich aber auch ärmere Ländern für den Einsatz von Radeln ohne Alter. Allerdings fehlen ihnen meistens die Mittel, um sich eine sichere Rikscha, wie zum Beispiel das Modell von Christiania Bikes leisten zu können. So wird dann zuweilen Billigware aus China eingesetzt.

Christiania Bikes

Bei Radeln ohne Alter haben alle das gleiche Ziel: Älteren Menschen ermöglichen, den Wind in den Haaren zu spüren. Alle brauchen frische Luft. Alle mögen das Fahrrad. Das verbindet. Foto © Cycling Without Age

Aus Sicherheitsgründen, aber auch der Nachhaltigkeit zuliebe, machen sich Ole und sein kleines Team dafür stark, dass die Rikschas vor Ort gebaut werden können. Sie sind daran, in Südamerika und Afrika das lokale Fahrradwerkstatt-Wissen zu fördern. Das schafft neue Arbeitsplätze und eine Vernetzung der Menschen vor Ort. Ebenso machen sie lokale Firmen ausfindig, die bereit sind, eine solche Aktivität zu unterstützen. “Wir wissen noch kaum etwas darüber”, sagt Pernille, “in diesen Ländern stehen wir noch ganz am Anfang.”

Überhaupt haben die Kopenhagener Mitarbeitenden unendlich viele Ideen und sehen so viel Handlungsbedarf in der Fahrradförderung, in sozialen und Umweltfragen. “Wir haben das Gefühl, nie genug zu machen”, seufzt Pernille. Aber das, was sie bis jetzt mit Radeln ohne Alter auf die Beine gestellt haben, macht für viele einzelne Menschen schon einen echten Unterschied.

Sabine, Irmgard und Erwin sind zurück von ihrer Ausfahrt. “Hach”, seufzt Sabine, “war das schön, die Vögel pfeifen zu hören und die Blumen zu riechen. Und Sabine hat so ein herrliches Lachen!” Die drei strahlen um die Wette. 

Radeln ohne Alter

Radfahren verbindet – auch im Alter! Foto @ Cycling without Age

Radeln ohne Alter – bewegt jedes Alter!

Doro Staub
Doro Staub ist Texterin und lebt in der Schweiz und in Italien. Sie reist seit Jahren immer wieder mit dem Fahrrad durch Italien. Wer das auch gern machen möchte, findet auf ihrem Blog Miss Move viele bunte Berichte und Tipps.
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