Das urbane Fahrradmagazin

Kidical Mass – Platz da! Nicht Kinder brauchen Grenzen – sondern der Verkehr

Begrenzt den Verkehr. Vertraut den Kindern! Die Kidical Mass bringt ganz Deutschland ins Rollen. Bike Citizens haben mit dem Initiatorenteam gesprochen: Eine Kölner Familie mit drei Kindern steckt hinter der bundesweiten Aktion.

karen Greiderer_squarel
Seit 2017 leitet Karen das Urban Independence Magazin. Die leidenschaftliche Pedalistin hat bereits einige (Welt-)Reisekilometer im Radsattel gesammelt. Heute verbindet sie entweder Faltrad plus Kinderanhänger oder Kompakt-Cargobike mit der Bahn in Berlin und Brandenburg - meist mit ihrer Tochter auf Tour. Ihr Zugang zum Fahrrad(fahren) ist vielschichtig-detailverliebt aber stets pragmatisch und reicht in ihre frühen Jugendtage in Österreich zurück.
Foto © Kidical Mass / Kinderaufsrad.org

„Wir waren gerade in Utrecht.“ Mit diesem euphorischen Satz beginnt das Gespräch mit Simone und Steffen, einem Elternduo mit drei Kindern aus Köln. Die Familie steckt hinter der bundesweiten Aktion Kinder aufs Rad. Simone und Steffen bringen mit der Kidical Mass eine noch nie dagewesene Mobilitäts-Offensive ins Rollen.

Für sichere, selbständige und angstfreie Mobilität – von 0 bis 99!

Generationsübergreifend wird an einem Aktionswochenende in rund 90 Städten Deutschlands – auf dem Laufrad, Fahrrad, im Cargobike und im Kinderanhänger demonstriert. 150 Partner und Partnerinnen sind an Board und es sind 100 Demos angemeldet.

TERMINHINWEIS:  19./20. September 2020 ! Ursprünglich war die Aktion im März 2020 geplant und aufgrund des Corona-Lockdown verschoben. Der Artikel wurde im September 2020 aktualisiert.

Über 90 Städte sind im September 2020 dabei – 100 Demos sind angemeldet! Grafik © Kinder aufs Rad

Die Forderungen sind die Realität – in Utrecht
Zurück nach Utrecht. Beziehungsweise zu Simone und Steffen nach Köln, die mir im Wechselmodus alle Fragen rund um die Kidical Mass beantworten – ohne, dass wir eigentlich über das Format sprechen.

„So viel Fahrrad gefahren sind wir in unserem ganzen Leben noch nicht wie an dem Wochenende in Utrecht. Und wir fahren als Familie viel Rad. Es war unglaublich bequem. Wir fuhren zu zweit, zu dritt nebeneinander auf der Straße. Es ist genug Platz. Die Kinder radelten singend und gelassen durch die Straßen. Es gibt abgetrennte Radwege. Autos parken, wenn nur an einer Seite der Fahrbahn. Gibt es keinen Radweg, reihen sich die stärkeren Verkehrsteilnehmenden hinten ein. Das bedeutet: Autos fahren langsam hinter Radfahrenden!“ Eine gefährliche Situation gab es nicht.

„Den Kindern ist sofort aufgefallen wie frei und unkompliziert alle Leute in der niederländischen Stadt Rad fahren!“ Die beiden Älteren (11 und 5 Jahre) staunen nach wenigen Radkilometern über die Ruhe. Alle sind im Fluss. Niemand hupt. Niemand klingelt. Keiner stresst – auch nicht die anderen Radfahrenden. „Wir sind nicht im Weg. Wir sind Element eines schönen Theaterstücks!“

Die Kleine (3 Jahre) hatte den Straßenbelag im Blick:

„Papa! Mama! Hier liegen nirgendwo Scherben am Boden. Und auch keine Hunde-Kacka!“

Is your city safe enough for a five-year-old to comfortably navigate the rush hour traffic?We recently hosted Kidical Mass Köln from Cologne, Germany to cycle the child-friendly streets of Utrecht.This was what they experienced. Read more about their work: https://kidicalmasskoeln.org

Gepostet von Dutch Cycling Embassy am Dienstag, 25. Februar 2020

>> Klick rein! Das Video zeigt, wie entspannt und lustig eine Radtour mit drei Kindern durch die Stadt sein kann. Die Familie war mit der Dutch Cycling Embassy in Utrecht auf dem Rad unterwegs…

 

Alle sind begeistert. So sieht also eine Stadt für Menschen aus. Hier kann man sich frei bewegen – egal wie alt man ist – auf dem Rad und zu Fuß.

Das Blech muss blechen: Dem Auto den Platz wegnehmen

Was macht die viertgrößte niederländische Stadt, mit etwas mehr als 350.000 Einwohnenden, so lebenswert im Vergleich zu Deutschland? Simone und Steffen sind sich einig: Der Mindset!

Neben Vision Zero und „Presumed Liablity/Mutmaßliche Haftung“ – das bedeutet, dass bei einem Unfall der Autofahrende im Zweifel immer Schuld ist – gibt es drei weitere Hauptfaktoren, welche die Stadt lebenswert machen: Eine gute Infrastruktur für Radfahrende, faire Flächenverteilung für alle und eine Gesetzgebung, die Radfahrende und zu Fußgehende an die erste Stelle setzt.

Ein eindrucksvolles Beispiel dafür: Die Auto-Parkkosten sind flächendeckend viermal so hoch wie in Deutschland. Die Kosten betragen in der City von Utrecht  40 Euro pro Tag. Anwohnerparken ist stark begrenzt. Zweitwagenparken ist in der Innenstadt verboten. Busse und Taxen dürfen durch.

Die Forderungen

So ein Stadtbild und Lebensgefühl wünschen sich Simone und Steffen für Deutschland. Darum hat die Kidical Mass klare Forderungen an die Politik:

  • Alle Kinder und Jugendlichen sollen sich sicher und selbständig mit dem Fahrrad in der Stadt bewegen können
  • Angstfrei Radfahren für alle
  •  Sicheres Schulradwege-Netz
  • Tempo 30 innerorts

 

Der Konsens

Unterstützt wird die Initiative überregional von ADFC, Campact, Changing Cities, Deutsches Kinderhilfswerk, Greenpeace, Radkomm und VCD. Auf lokaler Ebene sind 150 Bündnispartner und -partnerinnen das Herzstück der Bewegung. „Hinter jeder Initiative stecken viele, einzelne Individuen. Lauter Persönlichkeiten, die ihre Freizeit opfern um so eine verrückte Veranstaltung zu machen!“ betonen Simone und Steffen. Aber die Kidical Mass ist mehr als eine verrückte Sache. „Kidical Mass“ steht für einen Wertekonsens: Tausende Menschen teilen die Vision von Simone und Steffen. Die bundesweite Aktion trifft Nerv und Herz einer Gesellschaft und das zum richtigen Zeitpunkt.

Kinder und Familien als Projektionsflächen gesellschaftlicher Ideale

„Wir sind jetzt an einem Punkt, wo vieles in den Städten nicht mehr zu ertragen ist. Luftschadstoffe, Lärm, Platz, Umwelt, Klima – ein ‚Weiter So’ geht nicht. Und außerdem: Was wird mit unseren Kindern?“ fragen die Zwei. Regelmäßig liest man in den Medien über Natur-Defizit-Syndrom, verkümmerte Motorik, Unselbständigkeit im Straßenverkehr, zu kleinem Bewegungsradius von Kindern. Was meist folgt ist Eltern-Bashing entlang gesellschaftlicher Ideale statt ernstzunehmender Selbst-Reflexion: Helikoptereltern mit SUV-Taxis sind in diesem Diskurs nur eine Spott-Figur von Vielen.

 

Kidical Mass

Wie stellen sich Kinder eigentlich ihre perfekte Fahrt zur Schule oder Kita vor? Foto © Kidical Mass Frankfurt

Fakt ist, dass der öffentliche Raum – wie er aktuell ausgestaltet ist – eine absolut ungeeignete Umgebung für die Entwicklung von Kindern ist. Den Erwachsenen tun die Strukturen übrigens auch nicht gut.

Schockstarre hinterm Lenkrad statt Lust am Experimentieren

Wann haben Kinder aufgehört auf den Straßen zu spielen? Wann haben Schulen angefangen, Kindern ein Mit-dem-Rad-zur-Schule-Verbot zu erteilen? Seit wann gelten Eltern als fahrlässig, wenn sie ihre Kinder allein zur Schule laufen oder radeln lassen – möglicherweise sogar ohne Helm? Deutschland steckt mitten drin in der Konsequenz der Massen-Motorisierung. Verunsicherung und Ängste führen zu mehr „Aufrüstung“ bei allen Verkehrsteilnehmenden. Das Ergebnis ist, dass sich Eltern und Kindern nicht mal eine kurze Strecke auf dem Rad zutrauen, egal ob Stadt oder Land. Dabei sollten Straßen Begegnungszonen sein, keine Kampfzonen. Überall fehlt das Vorstellungsvermögen, wie es anders funktionieren könnte. Wir befinden uns in einer kollektiven Schockstarre – meist hinter dem Lenkrad.

Kidical Mass Köln

Wo ist hier eigentlich der Platz fürs Rad? Foto © Hanna Walther

Vom Aha zum Handeln

„Ich kann noch so viel reden, wie schön es ist, Rad zu fahren und wie unkompliziert es ist als Familie autofrei zu leben. Wie glücklich die Kinder sind, wenn man sie vertrauensvoll frei lässt. Aber: Es braucht immer das eigene Erlebnis. Autofreie Tage sind dafür perfekt. Die Menschen erleben dann einen temporären Aha-Effekt. Sie spüren wie toll es auf der Straße sein kann. Ein Bewusstsein für neue Möglichkeiten keimt.

Es geht dann nicht mehr darum, ob der Radweg jetzt 60 oder 90 cm breit ist, sondern um die Neugestaltung von Lebenswelten.“ erzählen Simone und Steffen. An einer Kidical Mass teilzunehmen und für lebenswerte Städte zu demonstrieren; das ist Handeln. Nur so kann die Kidical Mass den Druck auf die Politik erhöhen und ihr zugleich den Rücken für zukunftsweisende und enkeltaugliche Entscheidungen stärken.

Wer hat eigentlich Amsterdam zur Fahrradstadt gemacht?

Von Kusterdingen bis Berlin: In ganz Deutschland kamen im Dominoeffekt in den ersten Wochen 40 Städte zusammen. Mit dem ADFC als Bündnispartner waren mit einem Schwung nochmal 20 Städte dabei. Und es werden täglich mehr. „Die Kidical Mass ist kein urbanes Hipster-Phänomen. Und genau das ist die Stärke des Formates. Kleine und große Städte fühlen sich angesprochen. Alt und Jung. Eltern und Singles. Wir nehmen alle mit!“ Und: „Für Kaltakquise hatten wir keine Zeit!“, lacht das Initiatorenteam.

Kidical Mass

Für extra Verkehrssicherheit sorgt die polizeiliche Begleitung und jede Menge helfende Hände, die die Gruppe zusammenhalten. Foto © Kidical Mass Dortmund / Sebastian Peter

In den größeren Städten klemmen sich meist die Radentscheide hinter die Orga der Kidical Mass. Mittelgroße Städte haben oft eine Critical Mass-Community, die sich jetzt für die Kidical Mass engagiert. In den ganz kleinen Städten sind es einzelne Privatleute, die aktiv geworden sind. Summa summarum: Das ist Mobilitätswende von unten! Und der Aspekt, dass es Kinderdemos waren, die in den 70er Jahren Amsterdam aus der „Motorisierungs-Falle“ protestierten und zur weltweiten Fahrradhauptstadt machten – der rückt die Kraft der Kidical Mass plötzlich in ganz neues Licht.

Zieh’ die Warnweste aus, Baby!

Simone und Steffen sind das Kernteam des Aktionsbündnis’ Kidical Mass. Sie machen das neben Familie, Alltag und Job und ohne großes Budget. Etwa 10 Leute unterstützen sie in den Bereichen Film, Web und Grafik. Überregionale Partner geben einen finanziellen Zuschuss. Die Kidical Mass nicht zu machen, ist für die beiden keine Option.

„Wir haben unglaublichen Rückenwind von unserem Umfeld und unserer Familie. Die Anfangsphase war trotzdem holprig.“ Dass es nicht so leicht ist, Leute verbindlich ins Boot zu holen mussten Simone und Steffen feststellen. Dabei wollen die Zwei nur eines:

„Hört auf euren Kindern Warnwesten anzuziehen. Hört auf mit dem Kaffeetrinken. Verschiebt das Wohnungputzen. Geht auf die Straße! Für eure Kinder und die Zukunft!“

Mit Kindern auf Augenhöhe. Oder auf Augenhöhe mit dem Heck eines SUVs?

Die Kidical Mass ist Kind Nummer vier von Steffen und Simone. Und sie haben auch Wünsche für ihren geistigen Nachwuchs: Sie sagen, Fahrradfahren ist wie Freilauf für Menschen, die im Hamsterrad Alltag-Job-Familie feststecken. Kinder passen in die enge Taktung des Alltags nicht rein. Eltern haben das Bewusstsein für den Moment verloren. Auf und mit dem Rad erfolgt eine ganz neue Selbstermächtigung. Radfahren ist Freiheit. Radfahren ist Selbständigkeit und Selbstwirksamkeit.

Die Kidical Mass instrumentalisiert Kinder und Jugendliche nicht für radpolitische Selbstzwecke, sondern ist Megaphon und Rückendeckung für eine Gruppe, die keine Lobby hat und nur physisch auf Augenhöhe ist mit dem Heck eines SUVs.

„Wer weiß, wie es die Welt verändert, wenn wir erkennen, dass Städte da sind zum Leben und nicht zum Konsumieren.“ sagt Simone. Oder Autos darin zu parken…

 

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NACHTRAG: 
Die bundesweite Aktion Kidical Mass am 21./22. März 2020 wurde aufgrund des Corona Virus  abgesagt / verschoben. Der Artikel erschien zum ersten Mal im März 2020 und wurde am 8. September in aktualisierter Form erneut veröffentlicht.

Simone als „Back-Up“ auf dem Cargobike bei der Kidical Mass in Köln – ihre Tochter (3 Jahre) radelt die Tour selbst. Foto © Hannah Walter

Kidical Mass

Tempo und Route passen bei der Kidical Mass zu den Kleinsten! Foto © Stefan Flach

Neuer Termin: 19./20. September

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Kidical Mass

Foto © Simon Veith | nachhaltige Fotografie

Über Simone Kraus und Steffen Brückner
Simone und Steffen leben mit ihren beiden Jungs (11 und 5) und ihrer Tochter (3) in der Innenstadt von Köln. Auch als fünfköpfige Familie autofrei zu leben, ist für sie total normal. Vom Großeinkauf über die Zeltausrüstung bis hin zur Kindergeburtstagsgesellschaft wird alles im Cargobike transportiert. Die Kinder sind super Radfahrende, selbst die Kleinste fährt seit sie 3 1/2 ist auf ihrem 14-Zoll Rad zur 2 km entfernten Kita. Im letzten Sommerurlaub haben sie zum ersten Mal den Bullibus eines Freundes stehen gelassen und sind mit Bahn und Rad auf Reisen gegangen. Die Kidical Mass organisieren Steffen und Simone ehrenamtlich neben ihren Berufen im Bereich Energie, Nachhaltigkeit und Kommunikation – und der Familie.

karen Greiderer_squarel
Seit 2017 leitet Karen das Urban Independence Magazin. Die leidenschaftliche Pedalistin hat bereits einige (Welt-)Reisekilometer im Radsattel gesammelt. Heute verbindet sie entweder Faltrad plus Kinderanhänger oder Kompakt-Cargobike mit der Bahn in Berlin und Brandenburg - meist mit ihrer Tochter auf Tour. Ihr Zugang zum Fahrrad(fahren) ist vielschichtig-detailverliebt aber stets pragmatisch und reicht in ihre frühen Jugendtage in Österreich zurück.
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