Klimafreundlich nach Spanien: Per Zug und Rad über alle Berge – Teil 1
Umweltfreundlich in die Ferne: Mit dem Rad bis Spanien – im Winter. Geht das? Fünf Tage dauerte meine Reise von Deutschland nach Spanien. Große Strecken legte ich in Zügen zurück, aber die großartigsten noch klimafreundlicher, per Fahrrad – am Ende auf einer Pilgerroute durch die Pyrenäen.
Wer weite Reisen ohne Flugzeug oder Auto unternimmt, schont die Umwelt und erlebt Grenzwertiges neben Grandiosem. Zum Beispiel auf Bahn- und Fahrrad-Tour über die Pyrenäen. Bald ein Jahr ist es her, dass Verfechter·innen eines strengeren Klimaschutzes spürbaren Rückenwind aus Karlsruhe bekamen. Das Bundesverfassungsgericht urteilte, die Gesellschaft habe Ressourcen-schonender zu agieren: Um Generationen nach uns Freiheiten zu bewahren, bedarf es Einschränkungen im Hier und Jetzt.
Wer aus diesem Urteil außer staatlicher auch eine persönliche Pflicht ableitet – wer aus Alltags- oder Freizeit-Trott ein Stück weit ausbrechen und klimafreundlicher leben will, kann sein Reiseverhalten ausloten: mit der an Gewohn- und Bequemlichkeiten nagenden Frage:
„Ist mein Fernziel wirklich nur per Flugzeug oder Kraftfahrzeug zu erreichen?“
Herrscht nicht gerade eine Pandemie, reise ich dreimal im Jahr in die Ferne: zum Urlauben im Sommer sowie zu Weihnachten und Ostern, um in größerem Familienkreis zusammenzukommen. Weil ein Großteil der Familie in Spanien lebt.
Was zugleich Glanz und Elend für mich ist. Denn so gerne ich den Südwesten Europas bereise, so ungern bin ich von Flugverbindungen abhängig. Ende 2021 stelle ich mir deswegen erstmals im Ernst die Frage: Taugt nicht auch ein Landweg, um mich nach Iberien zu begeben?
Kommt darauf an, ob man das als Malus oder Bonus sieht: Meist macht’s mich froh, anderswo Zeit abzuknapsen, um diese in eine intensivere mehrtägige Reise zu investieren – statt mich mit kurzatmigen Flügen oder Pkw-Hektik zu stressen. Auch auf höhere Kosten muss ich nur manchmal Rücksicht nehmen. Aus diesen beiden Gründen vernarre ich mich vergangenen Herbst in die Idee, zwischen Elbe und Ebro die Wallonie im Winter zu sehen, mich unterwegs in einer Boulangerie Aquitaniens zu verköstigen und zu touristischer Totzeit in ein oft überlaufenes Aragón-Naturparadies hineinzuschmecken.
Per Fahrrad – nicht nur per Bahn – einfach weil ich gern körperlich aktiv bin: Regelmäßige Anstrengung nährt mich physisch und psychisch, im Alltag ebenso wie in der Freizeit.
Höllisch die Vorstellung, mehr als einen kompletten Tag in einer Blechbox oder einem Eisenabteil zu reisen!
Ausgerechnet im Winter mit einem Alu- oder Carbon-Rahmen loszuziehen, ist natürlich kein Zuckerschlecken – noch dazu während der Corona-Pandemie, die eine Reise kontaktarm und unsicher macht. Dennoch gehe ich das Wagnis ein.
Ich lebe im Dunstkreis Hamburgs, jedoch ist ein Großteil der Familie unweit des spanischen Landesteils namens Aragón zu Hause. Zwischen dem dortigen Ebro und der hiesigen Elbe liegen 1.700 Kilometer sowie Teile der Niederlande, Belgiens und Frankreichs. Zu Weihnachten will ich in Spanien ankommen – per Eisenbahn, aber auch aus eigener Kraft. Ich plane vier Radfahr-Abschnitte, die zusammen 400 Kilometer ausmachen. Den Rest reisen wir mit der Bahn.
Wir, das sind ich und mein bewährtes Reiserad. Auf den gut gemeinten Europakommissions-Rat, lokale Verleihfirmen zu nutzen, gebe ich nichts. Von der Fahrt durch alle Bundesländer weiß ich: Eine Reise durch die Fremde gewinnt vor allem durch das, was außerhalb von Ballungszentren passiert.
Was nicht zu ahnen war: Wie schnell sich auf einer Winter-Radreise die eigene Fragilität kristallisiert. Und wie wichtig ein wohlmeinendes Schicksal wird, zum Beispiel auf der allerletzten Radetappe, um Mitternacht in den Pyrenäen, wo ich glückstrunken die letzten Serpentinen vor der Grenze hinaufkeuche, in der Gewissheit, dass nichts mehr mir Spanien verwehren kann.
Kurz vor Heiligabend regiert Sturm überm Aspe-Tal in den französischen Pyrenäen. Je höher ich mich hinaufarbeite, umso bestialischer bläst er mir entgegen. Jenseits der 1.200-Meter-Höhenmarke bieten selbst mannshohe Schneewände keine Deckung mehr. Ich nehme den quijotesken Kampf gegen die Windböen auf, lache laut rauf zur Bergkette, die grimmig vor dem Nachthimmel thront.
Im Föhnsturm
Grund zur Freude hab ich tatsächlich angesichts jenes Föhns, der mir bis unter die Sturmmaske fährt, die mir der Radhelm auf den Schädel presst: Wir schreiben Ende Dezember, aber heute ist Frühling – mit Plusgraden! Die Passstraße ist frei von Eis und Schnee. Wo der nassschwarze Asphalt der Serpentinen am Gebirgskamm in warmweißem Licht aufgeht, ahne ich den Pass, weiß ich die Grenze.
Oben äugen lange Laternen auf mich pedalmüde Buckelnden, der ich zu mitternächtlicher Unzeit, grenzschleichend, wie in Zeitlupe die letzten Meter bestreite. Heiß, keuchend falle ich rücklings in den Schnee am Grenzschild. Zweimal das Ganze, denn ein Foto muss sein; aber schnell, bevor der Schweiß erkaltet!
Hinunter nach Spanien reißt mich rein das Eigengewicht. Krampfhaft klammre ich den Lenker, 600 Höhenmeter, Schleifen ziehend, Kehren kurvend, zehn Minuten bis zum Dorf, auf der letzten, der rasantesten und gefährlichsten Fahrt unterm Zugzwang der Schwerkraft. Mit tauben Fingerkuppen ziehe ich in Canfranc die Bremskabel bis zum Anschlag. Hier endet die Radreise. Und die letzte Zugfahrt beginnt.

Der alte Bahnhof von Canfranc, Foto © Marc Celeiro (Quelle Wikipedia)
Europas einst zweitgrößter Bahnhof – in einem Pyrenäen-„Nest“
Canfranc hat 540 Einwohner und zwei Bahnhöfe. Der kleine ist schlicht, temperamentlos und noch kein Jahr alt. Der andere, 1928 eröffnet, stellt sich mir als schlossgleiches Monument verkehrspolitischen Größenwahns in meinen Weg zu den Gleisen.
Bis zur Zugabfahrt um 6 Uhr am Morgen jenes Heiligabends, der mich zu Mitternacht übers Gebirge kommen sah, bleiben mehrere Stunden. Zeit, um in der kleinen Estación zu dösen. Und um nebenan den mehrere hundert Meter langen, umzäunten Großbahnhof zu begucken. Auf einem in Schneemassen fast erstickten Schild lese ich, der Prachtbau hat allein 75 Türen und fast denselben Jahrgang wie unweit das älteste Skigebiet Spaniens namens Candanchú.
Unverändert trägt der stillgelegte Monsterbahnhof seit bald hundert Jahren den pompösen Titel Estación Internacional. Er spiegelt die Sensation wider, dass hier die normalspurigen Gleise enden, die in aberwitzigen Schleifen den Col du Somport erklommen haben. Die Passhöhe liegt rund 1.600 Meter über dem fast gleich weite entfernten Ozean im Westen und Mittelmeer im Osten. Aus Frankreich angereiste genießen entweder Canfrancs Bergfrische oder fahren in Spaniens Breitspurbahn weiter gen Iberus (lateinisch für Ebro), dem Namensgeber Iberiens.
So war‘s einmal! Die verkehrspolitische Ehe hielt knapp fünfzig Jahre. Seit 1970 sind Frankreich und Spanien geschieden, gemessen am Bahnanschluss über die Zentralpyrenäen. Dabei sollte Canfranc für Spanien so etwas werden wie Děčín für Böhmen, südlich von Dresden: erster und bedeutsamer Bahnhalt auf einer internationalen Berg- und Tal-Traverse. In Aragón gings schief; Canfrancs Bahnhof verlor im Zuge von Krisen und Kriegen erst seine Bestimmung, dann mehr und mehr an Substanz. Doch an Stapeln von Baumaterial ist zu erkennen, dass renoviert wird.
„Aus dem Palästchen soll ein 5-Sterne-Hotel werden“, klärt mich die Begleiterin meines Regionalzugs Nummer 15645 auf. Der wartet mit laufenden Motoren im kleinen Bahnhof; die Zugbegleiterin ist extra ausgestiegen, damit ich, im Bann des Monsterbahnhofs verharrend, die Eisenbahn nicht verpasse. Gleich beginnt meine letzte Fahrt – die gemütlichste der Reise, auf der ich weite Strecken den ganzen Zug für mich allein habe. Die rund 180 Gleiskilometer bis Zaragoza legt Zug 15645 in mehr als vier Stunden zurück, fährt also im Schnitt keine fünfzig Stundenkilometer. Ein veritabler Bummelzug.
Die allerletzte Fahrt: Bummelzug von Canfranc nach Zaragoza
Lautstark und doch schleichend setzt er sich in Bewegung. Während hinter dem Abteilfenster langsam die Säulenreihe des Monsterbahnhofs entschwindet, die sich, gleißend beleuchtet, abhebt vom düsteren Canfranc hinter der Estación Internacional, fläze ich mich behaglich auf die Sitzbank. Solche somnolenten Momente liebe ich, um Schlüsselmomente einer Reise Revue passieren zu lassen. Nur eine Pflicht habe ich noch: meinen Fahrschein herzeigen!
„Und das Fahrrad?“, fragt die Zugbegleiterin streng, mit einem leichten Kopfruck das Vehikel adressierend. Schlagartig bin ich wieder wach. Und peinlich berührt. Unhinterfragt habe ich den Gratis-Modus von Frankreichs Transport Express Régional auf Spaniens RENFE-Regionales übertragen. Einer Entschuldigung meinerseits kommt die Zugbegleiterin mit der Erklärung zuvor, dass Räder erst ab einer bestimmten Fahrdistanz ein Ticket brauchen. Was – zu meinem Vorteil – im Unklaren bleibt, denn die Frau entschwindet mit den Worten „Ich werde es Dir nicht berechnen“. Ich stutze, habe mich in Sachen Strenge wohl getäuscht. Allein der Neugier wegen, was wohl ein Radticket kostet, hätte ich insistieren müssen. Aber Erschöpfung siegt über Neugier: Ich nuschle der Frau ein Gracias hinterher und ergebe mich meinen Reminiszenzen.
November – einige Wochen vor Reisebeginn
Durch Europa Zug zu fahren, mutiert immer dann vom rein praktischen Streckemachen zu einem schönen Erlebnis, stößt man auf „über-menschliches“, sprich nettes Bahnpersonal (zum Beispiel in Regionalbahn 15645). Wobei die Zugfahr-Regeln und Räumlichkeiten im Wortsinne „menschlich“ sind: auf Menschen ausgerichtet, nicht jedoch auf Gerätschaften. Gerade im internationalen Bahnverkehr haben Fahrräder selten einen guten Stand – zumindest auf den grenzüberschreitenden ICE-, TGV- oder AVE-Zügen.
Um ein unverpacktes und nicht klappbares Rad auf meine Elbe-Ebro-Traverse mitnehmen zu können, wurde ich bereits Wochen vor Aufbruch in einem DB-Reisezentrum vorstellig. Nur so konnte ich sicher gehen, kurz vor Weihnachten einen Stellplatz fürs Fahrrad und grünes Licht für den Zug in die Niederlande zu erhalten.
Internationales Rad-Ticket? Nur persönlich am Bahnhof
Für den ICE, der mich von Hamburg über Bremen nach Osnabrück brachte, hätte ich übers Internet und per App einen Fahrschein fürs Fahrrad erwerben können. Nicht jedoch für den Intercity, der, aus Berlin kommend, die Grenze gen Amsterdam quert. Wäre diese EU-immanente Rückständigkeit nicht etwas für die Agenda des Europäischen Gipfeltreffens der Regionen und Städte gewesen, das gerade in Marseille stattfand?
Teil 2 folgt demnächst.