Das urbane Fahrradmagazin

Radkultur(r)evolution in Wien

Neue Fahrradkulturen in Wien – ein Text von Alec Hager, Sprecher der Radlobby Österreich, Experte für Radverkehr und Kenner internationaler Facetten urbaner Radkulturen.

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Image © Bike Citizens

Fahrradkultur ist ein zentrales Thema in der laufenden Debatte, wie denn die Nutzung und der soziale Status des Fahrrades als Alltagsverkehrsmittel gesteigert werden kann, und warum dies funktionieren oder eben scheitern könnte. Das Radfahren gilt als fester Bestandteil urbanen Lebens in den hochgelobten, fast mythischen Fahrradstädten Amsterdam und Kopenhagen. Dort, wo das Fahrrad aber nicht so gut integriert ist, heißt es oft, es sei „nicht Teil der hiesigen Stadtkultur“. Aber was ist Fahrradkultur? Was ist Kultur überhaupt?

Was bedeutet der Begriff „(Fahrrad)-Kultur“?

Der Terminus „Alltagskultur“ bezeichnet die Normen einer bestimmten (lokalen) Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt: Normalität eben. Ist es heute „normal“, in Wien mit dem Rad zur Arbeit zu fahren? Und war es das in jüngster Vergangenheit? Nein. Jahrzehntelang betrug der Anteil des Radverkehrs am Modal Split weniger als zwei Prozent; deshalb galt der Radfahrer zu jener Zeit als „Sonderling“ auf Wiens Straßen.

Aber Kulturen verändern sich, meist ganz unbemerkt. Mit dieser Sichtweise befasst sich der sozialwissenschaftliche Ansatz der Cultural Studies seit den 1980er Jahren. Danach werden kulturelle Inhalte als eine Re-Produktion von Bedeutungen hergestellt, durch die täglichen Praktiken der menschlichen Interaktion: Untereinander, mit ihrem Umfeld, Medien, Geschichte. Diese Interaktionen sind complex, unterschiedlich und manchmal widersprüchlich, und sie können nicht als ein geschlossenes System berschrieben werden, insbesondere nicht in so stark von den Medien beeinflussten Zeiten wie heutzutage. Durch Inspiration und Adoption fügt die Reproduktion dem Alten stets etwas Neues hinzu, und dieser ständige Prozess – und nichts anderes ist Kultur – führt zu Veränderungen.

So verändert sich auch Wien. Wie viele westliche Städte reproduziert, adoptiert und verändert unsere Stadt ihre Einstellung gegenüber dem Radfahren. Wiens moderne Fahrradkultur ist bunt, vielfältig und entwickelt sich schrittweise. Aber warum? Und wie ist das passiert?

Wie jeder Beitrag zur Oral History ist die Antwort subjektiv und selektiv, denn der Autor dieses Artikels hatte und hat immer noch das Vergnügen, Teil der beschriebenen fahrradkulturellen Prozesse zu sein. Die Metapher des alten Waldes, der von frischem Samenflug begrünt wird, soll beim Veranschaulichen helfen. Das Wäldchen der Wiener Fahrradkultur wurde aus vier betagten, tief verwurzelte Bäumen gebildet. Der Älteste entstand aus dem Samenkorn der Radsportvereine, die 1883 mit dem Wiener Cyclisten Club ihren Anfang nahmen und heute zu einer sehr lebendigen Kultur des Freizeitradelns beitragen. Der zweite Baum ist die 1979 gegründete und bekannte Radlobby-Organisation ARGUS; der dritte sind die in Wien seit 20 Jahren existierenden RadbotInnen-Unternehmen. Der letzte Baum schließlich ergibt sich aus den zahlreichen Fahrrad- und Sportgeschäften, die die nötige „Hardware“ zur Verfügung stellen. Immerhin besitzen fast alle Wiener und Wienerinnen ein Fahrrad, auch wenn die meisten es nur gelegentlich für einen Ausflug am Wochenende nutzen.

radparade Wien Fahrradkultur

Ein Bild der Wiener Fahrrad-Community bei der jährlichen Radparade. Foto © Florian Spielauer / RADpaRADe

Diesen vier Stämmen der Wiener Fahrradkultur gesellte sich infolge von Reproduktion und Adoption von Ideen, die von Außen durch die Medien zu uns gelangten, Nummer Fünf hinzu. Der Name dieses Baumes ist Critical Mass und das späte Datum seiner Aussaat war das Frühjahr 2006. Wie auch anderswo (und 14 Jahre nach dem Beginn in San Francisco) begann diese Bewegung in Wien in kleinem Maßstab und konnte durch ein Handvoll Menschen und deren gezielte Begeisterung wachsen. Als monatliche Demonstration des Bekenntnisses zum und der Freude am Radfahren ist die Wiener Critical Mass vielleicht nicht dazu geeignet, die breite Masse von Menschen zu überzeugen, das Fahrrad zu ihrem Lieblingsverkehrsmittel zu machen. Allerdings hat sich gezeigt, dass zwei Gruppen, in vieler Hinsicht wichtig für das Entstehen einer Radfahrstadt sind. Die Gemeinschaft, die sich durch die Teilhabe an der Critical Mass, spontane Massenfahrten mit dem Rad, die heute in mehr als 400 Städten weltweit stattfinden, entwickelt und das kreative Netzwerk, das aus diesen monatlichen Treffen von RadfreundInnen entstanden ist. Kontinuierlich öffnen sich dadurch Türen zu neuen Inspirationsquellen der internationalen Fahrradwelt. Ein Jahr nach der ersten Critical Mass-Fahrt in Wien brachten die lokale Kerngruppe das Bicycle Film Festival (BFF) von New York in die österreichische Hauptstadt, und mit diesen bisher unbekannten Bildern auf der Leinwand kamen auch viele neue Ideen. Wien war nun bereit für weitere Samenkörner, die den wachsenden Wald der Fahrradkultur bereichern sollten.

Wiener Fahrradkultur

Das BFF war auch ein Katalysator für neue Allianzen und damit für die nächsten wichtigen Schritte in der (Re-) Produktion der Wiener Fahrradkultur. 2008 wurde die Vienna Bike Kitchen (Fahrrad-Selbsthilfewerkstatt und Treffpunkt) gegründet und die ersten Ausgaben der Velosophie, Magazin für Fahrradkultur, veröffentlicht, das sich bald zu einer der verbreitetsten Radzeitschriften im deutschsprachigen Raum entwickelte. Ein Jahr später kam mit der Gründung von Heavy Pedals das Lastenrad in die österreichische Hauptstadt. 2010 brachte die Fixie-Boutique FixDich Londoner Hipster-Style nach Wien, das Wiener Lastenradkollektiv ermöglichte erstmals treibstofffreien Gütertransport für jedermann, die Radlobby IGF veranstaltete monatliche gratis Radfilmabende, und Radfahrschulen boten ihre Dienste an, um die Menschen wieder aufs Rad zu bringen und ihnen die Fähigkeiten und das Selbstbewusstsein für den Stadtverkehr zurückzugeben. Cycle Chic mit seinen unzähligen Fotos fand 2011 eine Wiener Depandance und im selben Jahr eroberten 8.000 Menschen die Wiener Ringstraße mit der ersten Radparade. Im Jahr 2012 fuhr der erste Tweed Ride in Wien und die Rad-NGOs ARGUS und IGF schlossen sich zur Radlobby Österreich zusammen; die Radagentur der Stadt Wien eröffnete das (temporäre) FahrRADhaus, und das ehemalige BIcycle Film Festival wurde zum Radkult Festival Wien, um allen Aspekten der urbanen Wiener Radkultur(en) eine Bühne zu bieten.

Was also lange nur eine schütteres Wäldchen war, ist schnell zu einem großen, vielfältigen und fruchtbaren Wald herangewachsen, in dem Inspiration und Reproduktion hoffentlich weiter dazu beitragen, Radverkehr in die Normalität der Alltagskultur zu integrieren, bis das alltägliche Radfahren so verbreitet, normal und damit unauffällig sein wird wie ein vertrauter Baum im Urwald.

Foto © Bike Citizens & © Florian Spielauer / RADpaRADe

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