Radpropaganda: „Imagine how much better the world would be if more people rode bicycles“
Radpropaganda: Utopien, Verkehrswende und starke Bilder für menschenfreundliche Städte! Der Relaunch einer der ältesten deutschen Fahrradblogs im Sommer 2020 zeigt, dass 14 Jahre nach dem ersten Beitrag der Leitgedanke kein bisschen an Aktualität verloren hat. Tim Kaiser, Gründungsmitglied im Gespräch mit Bike Citizens.
“Stell dir vor, wie viel besser die Welt wäre, wenn mehr Menschen Fahrrad fahren würden.” Das ist die Botschaft der Plattform Radpropaganda. 2006 von Tim Kaiser und Ole Barnick gegründet, diente die Plattform dem Austausch zwischen Freunden. Sie wohnten zu jenem Zeitpunkt in unterschiedlichen Städten, wollten sich aber weiterhin übers Radfahren austauschen.
Mehr und mehr Menschen begannen sich für das Wissen zu interessieren, das die Freunde auf der Webseite dokumentierten, und so wurde Radpropaganda zu einem beliebten Blog für Fahrradkultur. Auch wenn Tim Kaiser die treibende Kraft der Plattform ist, sieht er Radpropaganda als Gruppenaktivität. Besonders, weil das Team oft Projekte anzettelt, die jemand alleine nicht stemmen könnte.
Kleine Utopien schaffen: Erlaubt euch, von einer schönen Welt zu träumen…
Um ihren Leitsatz herum hat Radpropaganda im Laufe der Jahre verschiedene Projekte aufgezogen.
- Raum für Fahrradkultur: So gab es den Raum für Fahrradkultur in der Hamburger Innenstadt, mit Werkstatt, Café, Küche, Bibliothek und Veranstaltungsraum: ein Ort zur Förderung und Wahrnehmung des Fahrrades.

Cyclassics Hamburg kucken im Raum für Fahrradkultur. Foto © Tim Kaiser / Radpropganganda
- Bankbike: Ein anderes Projekt war das Bankbike. Ein liebevoller Kontrapunkt zur Vermeidungsarchitektur, die in manchen Städten um sich greift, um Bürger daran zu hindern, sich an ausgewählten Orten aufzuhalten. Das Bankbike war eine lange Bierbank, die zum Fahrrad aufgerüstet wurde. Da Fahrräder praktisch überall stehen dürfen, stellte das Projektteam das Bankbike auf Plätze, die sonst keine Sitzmöglichkeit boten, und die Leute begannen sich darauf zu setzen und entdeckten, dass es hier eigentlich ganz schön wäre.
Architektur des Möglichmachens
Das ist die “Möglichmacharchitektur” von Radpropaganda zur Nutzung des öffentlichen Raums. Mit solchen kleinen Utopien möchten sie die Menschen dazu bringen, von einer echten Verkehrswende und einer menschenfreundlichen Stadt zu träumen.
“Ich bin es leid zu meckern und aufzuzeigen, was alles nicht funktioniert”, sagt Tim. “Wir wollen starke Bilder schaffen, die Fürsprecher sind für eine menschenfreundliche Stadt.” So macht Radpropaganda den Menschen das Fahrrad mit niederschwelligen Kampagnen schmackhaft. Auch jenen, die sonst mit dem Rad noch nichts anzufangen wissen.
Fahrradstadt Hamburg?
Radpropaganda schwebt aber keineswegs auf rosa Utopiewölkchen. Tim hat die Verkehrspolitik der “Fahrradstadt” Hamburg gut im Auge.
Wenig Verständnis hat er dafür, dass es Hamburg im Gegensatz zu anderen europäischen Städten bisher nicht geschafft hat, im Zuge der Corona-Krise Massnahmen zu ergreifen, den Fussgängern und Radfahrerinnen mehr Platz bieten, etwa wie es Berlin mit den Pop-up Bikelanes gemacht hat.
Wem gehört die Strese? Das Video zeigt Hamburgs erste Popupbikelane als angemeldete Demonstration von „Initiative Sternbrücke“ und ADFC.
“Hier besteht für Städte und Kommunen aktuell die Möglichkeit, schnell und unbürokratisch Neues auszuprobieren und dann in dauerhafte Strukturen zu überführen. Gerade wenn man sich gerne als Fahrradstadt sehen würde, muss man jetzt mutig sein. Hamburg hätte ja nur nachmachen müssen, was andere vorgemacht haben”, meint Tim.
Ebenso wundert er sich, dass bei neuen Fahrradprojekten, wie z. B. der groß angelegten Hamburger Fahrradkampagne, nicht die bereits vorhandene Community einbezogen wird. Mit gebündelten Kapazitäten und Kooperationen ginge doch vieles leichter.
Trotzdem begrüßt Radpropaganda alles mit Wohlwollen, was sich in den letzten Jahren zugunsten des Fahrrads bewegt hat und freut sich mit Berlin über das hart erarbeitete Mobilitätsgesetz und die sich daraus entwickelnde zeitgemäße Radinfrastruktur. So meint Tim Kaiser:
“Es braucht immer jemanden, der etwas Utopisches vorhat, um einen Schritt voranzukommen.”

Radpropaganda macht den Menschen das Fahrrad mit niederschwelligen Kampagnen schmackhaft. Foto © Tim Kaiser / Radpropgaganda
Verkehrswende bedeutet nicht Sieg der E-Mobilität
E-Mobilität gehört eigentlich nicht zu den engeren Themen von Radpropaganda. Trotzdem verfolgt Tim, was dazu kommuniziert wird: irrtümlicherweise wird E-Mobilität oft mit Verkehrswende gleichgesetzt. “Ich versuche zu intervenieren, wenn gesagt wird, dass Verkehrswende die Umstellung vom Verbrennermotor zur E-Mobilität bedeutet. Das ist ein großes Missverständnis. Klar ist: eine Antriebswende ist keine Verkehrswende. Immer wenn Technologie als Heilsbringer für unsere Verkehrsprobleme kommuniziert wird, sollten wir vorsichtig sein.” Auch wenn die großen Player jetzt Elektroautos bauen, ändert sich nichts daran, dass sie neue Autos verkaufen, die Platz verbrauchen und unsere Straßen eng und unsere Städte gefährlich machen.
Das ist der entscheidende Knackpunkt: Verkehrswende bedeutet nicht, andere Autos zu bauen, sondern eine andere Mobilität zu etablieren, die maßgeblich auf ÖPNV basiert und durch Mikromobilität ergänzt wird.
Deswegen ist Tim auch kein kritikloser Befürworter der Ridepooling-Aktionen in den gut erschlossenen Innenstädten: “Man muss immer schauen, wer ein solches Angebot nutzt. Steigt jemand, der sonst zu Fuß geht, Rad oder mit dem ÖPNV fährt, in ein solches Poolingangebot, dann ist es ganz einfach ein Auto mehr in der Stadt. Lässt hingegen jemand regelmäßig sein Privatauto stehen und schafft es im Resultat ab, dann ist ein Schritt in eine nachhaltigere Richtung getan.
„Das Ziel muss sein: Mehr Mobilität bei weniger Verkehr.“
Was hat Radpropaganda in der Zukunft vor?
„Als wir vor 14 Jahren mit dem Projekt angefangen haben, gab es höchstens eine Handvoll Fahrrad-Blogs. Letztes Jahr haben wir mit Radpropaganda den Lockdown vorgelegt, bevor alle anderen nachkamen”, lacht Tim Kaiser. Er bezieht sich auf den von der Technik erzwungenen Relaunch der Plattform, der eine längere offline-Zeit bedeutete. „Unabhängig von der neuen Website, hoffen wir natürlich auch, unsere abgesagten Veranstaltungen im „real-life“ nachholen oder zumindest für 2021 planen zu können“.
Jetzt, nach dem Relaunch, wird sich herausstellen, wie schnell die Leute zurückkommen, ob sich eine stabile Aufmerksamkeit halten kann und Radpropaganda zur Bedeutung zurückkehren kann, die sie einst hatte. Sie ist inhaltlich aufgeräumt, kommt in einem klaren Design daher und bleibt bei ihrer positiven Kommunikation über das breite Feld der Fahrradkultur.
Da Tim mittlerweile Vater ist, kommen mehr und mehr auch Familienthemen rund ums Fahrrad auf die Plattform. Und gerade als Vater bleibt er dabei: Stell dir vor, wie viel besser die Welt wäre, wenn mehr Menschen Fahrrad fahren würden!

Tim Kaiser, Foto © Radpropaganda