Das urbane Fahrradmagazin

Revolutions: Wie Frauen auf dem Fahrrad die Welt veränderten – ein Interview mit Autorin Hannah Ross

In ihrem Buch „Revolutions: Wie Frauen auf dem Fahrrad die Welt veränderten“ berichtet Autorin Hannah Ross über das Fahrradfahren im weitesten Sinne. Und zwar aus Sicht der Frau. Oft scheint es so, als ob Frauen gar nicht an der Geschichte des Radsports involviert waren – wobei schon vor über 100 Jahren Radfahrerinnen das revolutionäre Potenzial am Zweirad erkannt haben. Nicht nur das Leben der Männer wurde von diesem kostengünstigen Fortbewegungsmittel verbessert, sondern auch das der vielen Radfahrerinnen, von denen Ross mit Leidenschaft in diesem Buch erzählt. Wir haben mit der Autorin über ihr Werk, ihre persönlichen Radausflüge und was alles noch in ihrem Buch hätte erscheinen können gesprochen.

Zoey Weddige
Zoey Weddige ist Texterin, Content Writer und Übersetzerin und lebt in Berlin. Wenn sie nicht gerade Kurzgeschichten schreibt, kann man sie dabei erwischen, wie sie neue Rezepte ausprobiert oder mit dem Fahrrad durch ihre Stadt fährt.
GRAZER DAMEN-BICYCLE-CLUB Erster österreichischer Frauenradfahrverein (1893 - 1898)

Was hat Sie dazu bewegt, dieses Buch zu schreiben?

Als ich las, dass Simone de Beauvoir eine begeisterte Radfahrerin gewesen war, brachte mich das auf die Idee, über die Wechselbeziehung zwischen Feminismus und der Geschichte des Radsports nachzudenken. Frauen waren seit den Anfängen des Radsports beteiligt, aber der Eindruck, den man aus den meisten Berichten über ein Jahrhundert Radsport gewinnen kann, ist, dass nicht viele Frauen daran beteiligt waren. Aber der Radsport war schon immer ein feministisches Thema, und darauf wollte ich aufmerksam machen.

Die Idee von Revolutions war es, Frauen und Mädchen in den Mittelpunkt der Radsportgeschichte zu stellen und einige ihrer außergewöhnlichen Geschichten zu erzählen. Geschichten von Freiheit, Ermächtigung und Revolution, die viel zu lange an den Rand gedrängt, vergessen oder nicht repräsentiert wurden. Ob sie nun auf der Jagd nach Medaillen waren, die Welt erkundeten oder sich für das Frauenwahlrecht einsetzten, von Europa bis Indien, Afghanistan und darüber hinaus – diese Radsportlerinnen sind eine Inspiration, und ich hoffe, das Buch wird ihnen gerecht.

Welche Denkweisen oder Perspektiven wollen Sie mit Ihrem Buch verändern?

Ich möchte die Auffassung ändern, dass Frauen in der Geschichte des Radsports keine große Rolle gespielt haben, denn das ist völlig falsch. Und ich möchte zeigen, wie sehr sie oft dafür kämpfen mussten, um dabei zu sein, und welche unglaublichen Dinge sie erreicht haben, obwohl ihnen so viele Hindernisse in den Weg gelegt wurden.

Sie schreiben über so viele Themen, von den frühen Pionierinnen des Radsports, über Frauen, die das Fahrrad als Mittel des politischen Protests nutzten, bis hin zum professionellen Rennsport und sogar zu den Besonderheiten der Schwangerschaft in diesem Sport. Hätten Sie zu Beginn dieses Projekts gedacht, dass es eine solche Fülle von Themen zu entdecken und darüber zu schreiben gibt?

Nein, ich glaube nicht, sonst hätte ich mich wohl kaum auf ein so ehrgeiziges Projekt eingelassen. Ich wollte die gesamte Geschichte des Radsports abdecken, von den 1880er Jahren bis heute, und ein komplettes Spektrum von Radfahrern abdecken, vom Sport bis zur Freizeit. Bei der Recherche zu den einzelnen Abschnitten und Radfahrer:innen habe ich mich so sehr in die Materie vertieft, dass ich für jedes Kapitel ein eigenes Buch hätte schreiben können.

Dies war ein besonderes Problem für die Abschnitte über die frühen Jahre des Radsports, den Fahrradboom, da es so viel Originalliteratur über diese Zeit gibt, einschließlich vieler Zeitschriften und Journale, die speziell für Radfahrerinnen veröffentlicht wurden. Ich habe sie gerne gelesen, denn sie bieten einen faszinierenden Einblick in eine ganz andere Welt, in der das Radfahren für eine kurze Zeit die beliebteste Aktivität war. Unvermeidlich gab es viele Frauen, die ich nicht mit einbeziehen konnte, und auch einige Arten des Radsports, wie BMX. Aber ich hoffe, dass das, was es in das Buch geschafft hat, einen guten Überblick über 130 Jahre Frauenradsport gibt.

Die Belgische Radsportlerin Hélène Dutrieu 1898. (Urheberrecht nicht bekannt.)

Welche besondere Entdeckung hat Sie am meisten überrascht?

Mein Urgroßvater nahm im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert an vielen Radrennen teil. Als ich mit der Recherche für das Buch begann, wollte ich herausfinden, ob auch Frauen zu dieser Zeit Rennen fuhren.

Was ich herausfand – und das wird nicht für jede:n eine Neuigkeit sein – ist, dass es im späten 19. Jahrhundert in ganz Europa, Nordamerika und in Ländern wie Australien eine blühende Szene von Radrennen für Frauen gab. Dies ging mindestens bis ins Jahr 1869 zurück, als eine Reihe von Frauen am ersten Langstrecken-Radrennen von Paris nach Rouen teilnahm.

Viele dieser Radrennfahrerinnen waren Stars, wie die Französin Lisette, und einige verdienten sehr gutes Geld. Sie wurden in Zeitschriften interviewt und ihre Rennergebnisse wurden veröffentlicht. Aber da der Frauenradsport erst 1984 Teil der Olympischen Spielen wurde und der Weltverband UCI (Union Cycliste Internationale) den Profiradsport der Frauen erst seit Ende der 1950er-Jahre anerkannte, ist es verständlich, dass viele denken, dass Frauen bis dahin überhaupt keine Rennen gefahren sind.

Welcher Teil des Buches hat Ihnen beim Schreiben am meisten Spaß gemacht?

Ich fand alles faszinierend, weshalb ich am Ende auch viel zu viel Material für ein Buch hatte. Aber besonders gefallen haben mir die Geschichten über die Langstreckenradlerinnen: von den viktorianischen Abenteurern wie der Respekt einflößenden Fanny Bullock Workman, die in den 1890er-Jahren in ihren langen Röcken und mit viel Gepäck beladen quer durch Europa und einen Großteil Südostasiens geradelt ist, bis zur unnachahmliche Annie Kopchovsky, die 1894 den ersten (inoffiziellen) Weltrekord im Radfahren für eine Frau aufstellte und dabei zum Star und erfolgreichen Selbstanpreiserin wurde. Außerdem hatte ich das Glück, die Radfahrerin und Reiseschriftstellerin Dervla Murphy zu interviewen, deren legendärer Bericht über ihre Solo-Radreise von Irland nach Indien in den 1960er-Jahren so viele inspiriert hat, selbst auf den Sattel zu schwingen und sich auf den Weg zu machen. Ich bin quer durch den Südwesten Irlands geradelt, um sie zu treffen, was ich für die einzig angemessene Art und Weise hielt, dorthin zu gelangen.

Sie haben erwähnt, dass sich viele Ihrer persönlichen Urlaube auch um das Radfahren drehen. Wo haben Sie das Radfahren besonders genossen und warum? Gibt es bestimmte Touren, die Sie empfehlen können?

Abgesehen von Großbritannien bin ich am meisten in der Region Aude in Südfrankreich geradelt, in den Ausläufern der Pyrenäen nahe der Grenze zu Spanien. Ich habe dort 8 Monate verbracht, als ich „Revolutions“ schrieb, und es ist ein Paradies für Radfahrer. Wir waren in der Nähe einiger berühmter Berge der Pyrenäen, wie dem Monte Segur, und wenn die Berge nicht Ihr Ding sind, gibt es stattdessen viele sanfte Hügel.

Die Landschaft ist spektakulär – weiße Berggipfel in der Ferne, Katharerburgen, hügelige Weinberge und die blauesten Seen – und es ist so ruhig, dass man oft stundenlang fahren kann, ohne ein Auto zu begegnen. Wenn Sie ein ruhiges, meditatives Radfahren in einer spektakulären Landschaft suchen, kann ich es nur empfehlen.

Erste bekannte Abbildung eines Frauenradrennens aus dem Jahre 1868 in Bordeaux. (Quelle: Wikipedia)

Sie schreiben, dass viele Frauen, sogar einige Profi-Radfahrerinnen, den Weg zum Radfahren auf Umwegen finden, dass sie nur aus anderen Gründen überhaupt aufs Rad gestiegen sind. Wie wird sich Ihrer Meinung nach die Covid-19-Pandemie auf das Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern unter den Radfahrern auswirken, da die Vorteile des Radfahrens während einer Pandemie (d. h. leerere und sicherere Straßen) langsam verschwinden?

Zu Beginn der Pandemie erlebte das Radfahren einen Aufschwung, da die Menschen nach einer Möglichkeit suchten, sich von der Pandemie zu erholen oder auf sichere Weise zu pendeln. Der fehlende Verkehr hat viele Menschen aufs Rad gebracht, die das vorher aufgrund des Straßenverkehrs nie in Erwägung gezogen hätten. Und viele von ihnen waren Frauen, die im Durchschnitt seltener Rad fahren, wenn sie das Gefühl haben, es sei nicht sicher.

Eine Zeit lang sah es so aus, als ob wir auf einen neuen Radfahrboom zusteuern würden, aber ich habe das Gefühl, dass wir diesen Moment jetzt etwas verloren haben, da der Verkehr in gefühlt noch größerer Zahl auf unsere Straßen zurückgekehrt ist.

Aber es gibt immer noch positive Anzeichen, denn eine Reihe von Städten, wie z. B. Paris, setzen sich dafür ein, das Radfahren zu einem zentralen Bestandteil der städtischen Infrastruktur zu machen. Genau diese Investitionen in die Sicherheit des Radfahrens werden das Radfahren zu einer weitaus vielfältigeren und integrativeren Aktivität machen. Wir müssen uns dringend von fossilen Brennstoffen und der Abhängigkeit vom privaten Pkw-Besitz lösen, und das Fahrrad – und das E-Bike – ist ein zentraler Bestandteil dessen, wie wir unsere Städte sauberer, grüner und lebenswerter machen können.

Zu welchem der verschiedenen Momente in der Geschichte des Frauenradsports würden Sie am liebsten zurückkehren und warum?

Da gibt es so viele, aber ich denke, ganz oben auf meiner Liste steht London (oder Paris oder New York, Berlin usw.) im Jahr 1895, dem Höhepunkt der Fahrradmanie in Europa, Nordamerika und darüber hinaus. Ich habe so viel über diese Zeit recherchiert, so viele Bücher und Zeitschriften über das Radfahren gelesen, die damals veröffentlicht wurden, dass ich gerne aus erster Hand miterleben würde, in welchem Ausmaß das Radfahren die Populärkultur für ein paar Jahre so dominierte.

Damals war es das modischste, was man sich vorstellen konnte, mit Fahrradschulen, die in allen Städten auftauchten, um neue Fahrschüler zu unterrichten, und aristokratischen Damen, die ihre Fahrräder mit der Pferdekutsche zum nächsten Park transportieren ließen, damit sie in der neuesten Fahrradmode ihre Runden drehen konnten. Einen kleinen Eindruck davon vermittelt ein kurzer Film aus dem Jahr 1896 über Radfahrer im Hyde Park, der auf YouTube zu sehen ist.

Die französische Radrennfahrerin Mademoiselle Serpolette 1899. (© nicht bekannt.)

Ich wünschte, es gäbe eine ähnliche Aufnahme aus dem Bois de Bolougne in Paris, denn ich weiß, dass die Franzosen damals führend in Sachen Radsportmode waren, und jede Radsportzeitschrift für Frauen berichtete damals darüber, was die Frauen im Bois in diesem Monat trugen. Es ist für uns schwer vorstellbar, wie dominant der Radsport zu dieser Zeit war, deshalb wäre es einfach großartig, es in Wirklichkeit zu sehen und davon zu träumen, dass es jetzt wieder passiert.

Gab es etwas, auf das Sie bei Ihren Recherchen für dieses Buch gestoßen sind, das Sie aufnehmen wollten, aber aus irgendeinem Grund nicht konnten?

Ich denke, der Großteil meiner Recherchen hat es in „Revolutions“ geschafft, auch wenn vieles davon etwas gekürzt oder gestrichen werden musste, damit das Buch nicht mehrere Bände umfasst. Aber ich weiß, dass ich noch so viel mehr hätte einbeziehen können, sogar ganze Disziplinen wie BMX oder Crit-Rennen, und natürlich so viele andere Radfahrerinnen, aber um dem gerecht zu werden, was ich abgedeckt habe, musste ich irgendwo aufhören. Ich hätte das Buch auf jeden Fall gerne globaler gestaltet, ich hätte etwa gerne mehr aus Asien aufgenommen, aber auch hier ging es darum, die Seitenzahl unter Kontrolle zu halten.

Worüber wollten Sie schon immer einmal über dieses Buch sprechen, sind aber nie danach gefragt worden?

Ich hatte noch keine Gelegenheit, viel über Simone de Beauvoir zu sprechen, die in gewisser Weise die Inspiration für dieses Buch war. Ich fand all ihre Berichte über das Erlernen des Fahrradfahrens, ihre wachsende Besessenheit vom Radfahren und dann ihre langen Radreisen, oft mit Jean Paul Sartre, absolut faszinierend und auch unterhaltsam.

Ihre Reisen fanden in Kriegszeiten statt, als große Teile Frankreichs besetzt waren und sie radelten Hunderte von Kilometern, wobei sie wegen der Kriegsrationierung nur sehr wenig zu essen hatten. Sie verlor sogar einen Zahn bei einem Sturz in den Alpen, bestand aber trotzdem darauf, ihre Reise fortzusetzen, und eine Reise endete damit, dass Sartre vor Erschöpfung in Ohnmacht fiel. Ich habe noch nichts darüber gefunden, ob ihre Radfahrbegeisterung nach dem Krieg anhielt, aber ich hoffe, dass sie es tat.

Besten Dank für Ihre faszinierenden Antworten! Wir können allen das Buch höchsten empfehlen!

Hannah Ross © Michael Tant

Hannah Ross arbeitet für einen unabhängigen Verlag in London. Sie ist Mitglied des örtlichen Fahrradclubs und hilft geflüchteten Frauen ehrenamtlich dabei, Rad fahren zu lernen. Wann immer sie kann, packt sie ihre Satteltaschen und macht sich auf die Reise – und zwar immer mit dem Rad. Am liebsten fährt sie (langsam) Berge hoch. Außerdem verbringt sie zu viel Zeit damit, über das nächste Fahrrad nachzudenken, das sie wirklich »braucht«.
Hannah Ross on Instagram
Hannah Ross on twitter

„REVOLUTIONS – Wie Frauen auf dem Fahrrad die Welt veränderten“, aus dem Englischen übersetzt von Daniel Beskos, erscheint pünktlich zum Weltfrauentag am 8. März 2022 im mairisch Verlag.

Wir verlosen zwei Exemplare unter allen die unter diesem  Artikel bis zum 18.3. 2022 einen Kommentar zum Thema Fahrrad und Frauen hinterlassen.

Zoey Weddige
Zoey Weddige ist Texterin, Content Writer und Übersetzerin und lebt in Berlin. Wenn sie nicht gerade Kurzgeschichten schreibt, kann man sie dabei erwischen, wie sie neue Rezepte ausprobiert oder mit dem Fahrrad durch ihre Stadt fährt.
Interessiert dich das Magazin?
Jetzt schmökern